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Was Grenzüberschreitungen ausmacht

Es gab eine Zeit, da war Berlin von einer Mauer umschlossen, die die Stadt zu einer Insel machte. In West-Berlin ist man in allen Richtungen irgendwann auf die Wand gestoßen, die nur wenige Schlupflöcher hatte. Noch heute ist die nächtliche Fahrt durch den ehemaligen Checkpoint Charlie auch ohne Kontrolle und Mauer eine wahrnehmbare Grenzüberschreitung. Man taucht aus dem weißen Licht der Westberliner Quecksilberdampflampen und Leuchtstoffröhren in das warme Licht der Ostberliner Natriumdampflampen. Auch der aufmerksame Fußgänger bemerkt, dass das Ampelmännchen plötzlich einen Hut trägt. Das ist es, was Grenzüberschreitungen ausmachen.

Alle Arten von Systemen leben von der Tatsache, dass etwas dazu gehört und vieles anderes nicht. Häufig sind diese Grenzen nicht so klar gekennzeichnet. Aus diesem Grund ist es wichtig aufmerksam zu sein, um eine Passage von einem System ins andere zu bemerken. Die folgenden Aspekte bieten ein einfaches Raster, um Grenzüberschreitungen so zu erleichtern, dass niemand Schaden nimmt.

  • Kontext
    Der Raum bietet viele erkennbare Grenzen – Flüsse, Berge, Straßen, Mauern usw. Nicht jede Begrenzung führt automatisch in einen Bereich mit neuen Regelungen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass sich etwas ändert, wenn man die Umgebung wechselt. Wer an einem Fluss wohnt, links- oder rechtsflussig, kennt diese Unterschiede. Auch die Zeit trennt unentwegt. Sei es die Vergangenheit von der Gegenwart oder die Gegenwart von der Zukunft oder das Vorher vom Nachher. Eine Grenzüberschreitung findet auch statt, wenn man nach einem Langstreckenflug über die Fluggastbrücke ein Land betritt – viele Passagiere kommen wieder nach Hause und andere werden zu Fremden.
    Bewusst macht man sich den Kontext durch diese Fragen: Wo bin ich? Zu welcher Zeit?
  • Tätigkeit
    Besonders vielfältige Systeme bilden Tätigkeiten oder Berufen. Jede Art von Beschäftigung schafft ein geschlossenes System mit bestimmten Voraussetzungen, in dem die sich verstehen, die dazu gehören. Die anderen sind ausgeschlossen. Dies kann man erkennen an der Kleidung, an den Werkzeugen oder an dem Fachjargon – Anstoß, Einwurf, Strafstoß, Kopfball, Abseits (wer das wohl ist?). Für Außenstehende handelt es sich um eine Art Fremdsprache, die man erlernen muss.
    Der schnelle Zugang zur Bedeutung könnte dadurch erfolgen, dass man fragt: Was wird getan? Wie heißt das?
  • Fähigkeiten
    Im Laufe der Zeit haben sich die Fähigkeiten immer weiter spezialisiert. Es lassen sich jedoch Wissensgebiete abstecken, die zusammen ein geschlossenes Fachgebiet bilden, das wiederum aus spezialisierten Teilsystemen besteht, die wiederum … usw. Das führt zu unterschiedlichen Fähigkeiten zwischen Elektro- und Thermodynamikern oder Quantenphysikern sowie zu Verständnishürden zwischen Branchen. Die dazugehörigen Sprachen bilden weitere Grenzen, die ab- bzw. ausgrenzen. Der Zugang zu einer anderen Kultur wird vor allem durch die entsprechende Sprachkompetenz möglich – sprechen Europäer von Denken, dann zeigen sie auf den Kopf, während Japaner eher aufs Herz zeigen.
    Die Überwindung dieser Grenze wird durch Fragen möglich – Wie macht man das? Was muss man dafür lernen?
  • Überzeugungen
    Die mentalen Modelle der Mitglieder eines Systems sind schwer ergründbar, da sie nur in den Köpfen der Leute wirken. Sichtbar werden sie im Kontext, den Handlungen und an den vorgeführten Fähigkeiten. Die Überzeugungen bilden den Mörtel, der alle Arten von Gruppen verbindet. Die Grenzüberschreitung wird an den Reaktionen der Leute erkennbar. Verstößt man gegen deren Glaubenssätze, z.B. bestimmte Rituale oder Verhaltensnormen, dann wird man ohne Verzug sanktioniert. Gleichzeitig ist man in seinen eigenen Denkgebäuden gefangen – wenn beispielsweise Gerechtigkeit einseitig festgelegt wird. Für den einen ist eine Gefängnisstrafe das Schlimmste, für den Anderen das Auspeitschen – obwohl die Notwendigkeit einer Bestrafung beiden gemeinsam ist.
    Die Grenze der Überzeugungen lässt sich durch vorsichtiges Nachfragen ermitteln: Wie sagt man dazu? Was muss man tun?
  • Rolle
    Eine besondere Form von Grenzen bestehen zwischen Rollen. Diese überschreitet man täglich immer wieder – einmal ist man Mitarbeiter, dann Chef, dann Kollege, dann Ehepartner, dann Vater, dann Freund, dann Vereinsmitglied usw. Im Geschäftsleben werden die Rollen manchmal schriftlich mit Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung beschrieben. Die vorherigen Aspekte (siehe oben) unterscheiden sich auch je Rolle – z.B. die unterschiedlichen Sprachen des Chefs, des Ehepartners und des Vereinsmitglieds.
    Deshalb stellen sich hier alle bisherigen Fragen und zusätzlich: Welche Rolle ist das? Welche AKV gehören dazu?
  • Zugehörigkeit
    Die Zugehörigkeit ist die schwierigste Grenze, da sich hier grundsätzliche Aspekte verstecken. Hier finden der übergeordnete Sinnzusammenhang und grundsätzliche Fragen des Lebens tief verankerte Antworten. Fundamentale Grenzen, die sich nur schwer verschieben lassen, bilden Religionen sowie wirtschaftliche und politische Systeme. Sie basieren auf dem persönlichem Glauben und der Verbundenheit mit den eigenen Wurzeln.
    Um diese Grenzen überschreiten zu können, sind respektvolle Fragen erforderlich: Was bedeutet das? Worauf muss ich achten?

Fazit: Wir überschreiten permanent gedankenlos irgendwelche Grenzen. Dabei kann jede Grenzüberschreitung zu einem Konflikt führen. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich die Grenzen immer wieder bewusst zu machen. Dazu beobachtet man den Kontext, in dem man sich befindet, die Handlungen, die passieren, die Fähigkeiten, die sichtbar werden, die Überzeugungen, die erkennbar werden, die Rollen, die es gibt sowie die Zugehörigkeit, die die andere Seite der Grenze prägt. Grenzen führen zu Ab- und Ausgrenzungen, die manchmal gewollt und manchmal ungewollt stattfinden. Grenzüberschreitungen sind unumgänglich, können aber durch die entsprechende Aufmerksamkeit so stattfinden, dass niemand dabei Schaden nimmt. Dies sind ein paar Aspekte die Grenzüberschreitungen ausmachen.

Sehen heißt glauben

Aus gutem Grund haben Religionen die Tendenz Bilder zu verteufeln. Der Glaube wird durch Information bedroht. Bildliche Darstellungen haben die Kraft Menschen zu überzeugen, dass das, was sie sehen, die Wirklichkeit sei. Es begann mit Symbolen und Zeichnungen, die in den dunkelsten Ecken von Höhlen, vermutlich bei Fackelschein, an die Wand gemalt wurden. Das ging weiter mit den Darstellungen von Göttern und heiligen Geschichten, die an magischen Orten gesehen werden konnten. Dann hielt die Malerei Einzug in private Häuser. Da jedes Bild ein einmaliges Kunstwerk war, konnten nur wenige sich diesen Luxus leisten. Erst mit der Druckerpresse und der Fotografie kamen alle in den Genuss dieser neuen Weltsicht. Mit dem Film und Fernsehen schließlich wurden Bild und Ton für die meisten Menschen einfach empfangbar. Parallel hat sich die Überzeugung entwickelt, dass das, was man sieht, auch wirklich ist – „Sehen heißt glauben“.

Das Bild wird jedoch durch Bedingungen bestimmt, die verhindern, dass man die Wirklichkeit auch wirklich zu Gesicht bekommt. Die drei folgenden Aspekte spielen dabei eine große Rolle.

  • Bildgestaltung
    Ein Foto zwängt die Motive aus seiner multisensualen Welt in einen zweidimensionalen Rahmen. Außerhalb des Bildrandes, rechts oder links, oben oder unten, ist kein Bestandteil des Bildes und damit unsichtbar. Der Einsatz eines Weitwinkelobjektivs reißt den Zusammenhang auseinander. Das Teleobjektiv verdichtet verteilte Objekte und erzeugt den Eindruck von Nähe. Der Filmtyp (Schwarz-Weiß- oder Farbe) erzeugt zusätzlich Stimmungen. Die entsprechende orangene Tönung erzeugt den Eindruck der Siebziger. Am Ende zeigt der Bildermacher nicht die Wirklichkeit, sondern er erzeugt sie durch seine gestalterischen Möglichkeiten.
  • Kontext
    Die Umgebung, in der das Bild präsentiert wird, erzeugt zusätzliche Bedeutung. Die Aufnahme eines rollenden Panzers in einem Artikel über die Invasion in einem Land oder in einem Bericht über die Befreiung einer Region löst einen jeweils entsprechenden Eindruck aus. Obwohl es das gleiche Foto ist, wird es unterschiedlich bewertet. Ähnliche Motive werden ebenfalls verschieden gedeutet. Eine Gruppe von Menschen, die mit Koffern und Kindern an der Hand über einen Feldweg laufen, können unterschiedliche Gefühle wecken – je nachdem, ob es sich um Flüchtlinge aus Syrien oder der ehemaligen DDR handelt.
  • Zensur
    Und schließlich bestimmen die Kontrollorgane eines Landes oder einer Zeitung, was man zu Gesicht bekommt – oder nicht. Sobald eine Entscheidung für eine Veröffentlichung erforderlich ist, beginnt die Überwachung. Die Kriterien spielen dabei keine Rolle, da den möglichen Betrachtern die Entscheidung abgenommen wird – aus Gründen der Güte eines Bildes (z.B. ungeschickte Perspektive oder Unschärfe), fehlendem Gehalt des Fotos, angenommenem fehlenden Interesse, oder aber um unerwünschte Sachverhalte zu verbergen, ein kritischer Blickwinkel, Botschaften, oder Wahrheiten. Die Zensur ist bereits akzeptierte Praxis. Das beginnt bei den Regeln für guten Journalismus und endet sicherlich nicht bei den integrierten Journalisten (embedded journalists), die von einer Militäraktion berichten – keiner stört sich an der dem Einfluss der Militärs auf die Veröffentlichung.

Die Beeinflussbarkeit von Bildern ist keine Errungenschaft des heutigen Fotoshopzeitalters. Immer schon wurden Bilder verfälscht. Die Abbildung zeigt beispielsweise, wie Stalin mit in Ungnade gefallenen Genossen umging. Er ließ sie einfach aus den Bildern herausretuschieren. Die Medien suggerieren Neutralität, wenn sie von der Filterblase oder von populistischer Berichterstattung sprechen. Schaut und hört man genau hin, so fallen in jeder Nachrichtensendung die tendenziösen Untertöne auf. Da helfen auch keine sogenannten neutralen Fakten-Checks mehr.

Fazit: Was man auf einem Foto sieht, ist immer das Ergebnis des Herausfilterns eines oder mehrerer Aspekte. Dies erfolgt bewusst oder unbewusst, mit den besten Hintergedanken oder böswillig, den Betrachter unterstützend oder behindernd. In jedem Fall wirken die Filter, die die Wirklichkeit verfälschen. In Abwandelung eines bekannten Spruchs: Man kann Bilder nicht nicht verfälschen. Ein Indikator, der sich aber nur schwer prüfen lässt, ist die Herkunft der Bilder – sofern man diese ermitteln kann. Es gibt also keinen Grund irgendetwas zu glauben, sobald man es sieht.