Zurückhaltung (遠慮) ist im Laufe der Jahrhunderte zu einer zentralen Eigenschaft der japanischen Kultur geworden. Die damit verbundene, scheinbare Unverbindlichkeit, die im Westen als zugeknöpft wahrgenommen wird, hat den Zweck die Anderen nicht in Verlegenheit zu bringen. Dies geschieht, indem man in formalen Sitzungen mit mehreren Teilnehmern selten die eigene Meinung direkt ausdrückt. Botschaften werden eher indirekt, ohne Worte und vage, kundgetan. Im Gegensatz zu der westlichen „Der Gewinner bekommt alles“-Mentalität, in der es stets nur einen Gewinner gibt, bietet die Bescheidenheit allen Beteiligten die Möglichkeit ihr Gesicht zu wahren. In den letzten siebzig Jahren hat das nicht verhindert, dass Japan trotz allem zu einer wirtschaftlichen Weltmacht geworden ist.
Welche Vorteile könnte man auch im Westen ausschöpfen?
- Mehr Sein als Schein
Viele Ergebnisse sind gar nicht so schlecht, wie es auf den ersten Eindruck scheint. Da jedoch die Beteiligten in ihrer Kommunikation dazu tendieren zu hohe Erwartungen aufzubauen und, selbst bei am Ende bescheidenen Ergebnissen, oft Superlative nutzen, ist es schwierig, eine realistische Bewertung zu erhalten. Darüber hinaus bleibt kein Spielraum mehr zur Bewertung von echten Spitzenergebnissen. Das führt dazu, dass die Protagonisten auch hohe Ansprüche an sich selbst haben – ich kann alles. Gleichzeitig werden die Erwartungen der Anderen in illusorische Höhen getrieben. Derartig hohe Erwartungen lassen sich nicht mehr erfüllen.
Mit der entsprechenden Bescheidenheit würden Ziele so smart vereinbart, dass sie auch wirklich erreicht werden. Um mehr Sein als Schein zu praktizieren, sollte man Superlative, wie z.B. beste, schnellste, sicherste, zuverlässigste oder günstigste, nur in Ausnahmefällen nutzen. - Lieber Daedalus als Ikarus
Ikarus ist das klassische Beispiel von Hybris. Diese extreme Form des Hochmuts und der Überheblichkeit erzeugt unrealistische Strategien. Ikarus hat das mit dem Leben bezahlt. Solange der Einzelne jedoch seine Fehleinschätzung überlebt, wird er immer riskantere Unternehmungen planen. Und wenn der Moment der Wahrheit gekommen ist, dann verlässt der Verantwortliche den Ort des Geschehens, nimmt seine Hybris mit und dreht beim nächsten Mal ein noch größeres Rad. Der entstehende, kollaterale Schaden zerstört die Referenzpunkte in dem jeweiligen Bereich. Die Mitarbeiter werden angesteckt und verfallen ebenfalls einem überheblichen Übermut.
Mit der entsprechenden Bescheidenheit würde die selbstgefällige Hybris auf ein gesundes Maß beschränkt. Dafür muss man sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern sich an Daedalus orientieren. Durch die entsprechende Achtsamkeit bezüglich des eigenen Verhaltens hat man eine Chance die Hybris im Keim zu ersticken. - Kolonialismus vermeiden
Die Vermessenheit führt nach einer gewissen Zeit zu einer Form des Kolonialismus. Die Anderen werden als minderwertig wahrgenommen. Das stetig stärker werdende Geltungsbedürfnis führt zu immer unrealistischeren Vorstellungen. Irgendwann werden die Kolonialisten nicht mehr ernst genommen.
Mit der entsprechenden Bescheidenheit würde der Schwung reduziert, andere am eigenen Wesen genesen lassen zu wollen. Alle Aktionen, die das Team mit negativer Energie laden, schaden am Ende einem selbst. Sobald das einem klar geworden ist, hat man die Wahl – weiter wie bisher mit dem Risiko langfristig zu scheitern oder den Kolonialismus zu unterdrücken und durch einen wertschätzenden Umgang alle erfolgreich zu machen. - Populismus meiden
Populismus zeigt sich an aktiven Beleidigungen und fortwährenden Verunglimpfungen. Die Anderen sind blöd. Nur wir sind im Besitz der Wahrheit. Dadurch werden alle, die nicht dazugehören, systematisch ausgegrenzt. Dies erzeugt Widerstand bei den Betroffenen und lässt die Populisten in ignoranter Hybris stecken.
Mit der entsprechenden Bescheidenheit wäre ausreichend Raum für Respekt. Und Respekt würde den Betroffenen die Möglichkeit bieten, die gestellten Aufgaben zu meistern. Die größten Vernichter von Schaffenskraft sind negative Botschaften. Die scheinbare eigene Aufwertung nützt dann auch nichts mehr.
Manche glauben, dass Bescheidenheit einen zurück wirft. Da jedoch die überzogenen Versprechungen der Anderen nur selten befriedigende Ergebnisse erzeugen, trennt sich bald die Spreu vom Weizen. Das Resultat wird durch die Lattenhöhe bestimmt, die überwunden werden soll. Liegt die Latte zu hoch, kann man sie nur reißen. Nur der erfüllte Auftrag ist der erfüllte Auftrag – und achtzig Prozent ist ein gutes Ergebnis, zwanzig Prozent nicht.
Fazit: Da mittlerweile zu oft Superlativen genutzt werden, ist es Zeit, die bewährte asiatische Bescheidenheit auch im Westen auszuprobieren. Dadurch werden die immer höhere Anspruchshaltung und die schwer erfüllbaren Erwartungen auf ein realistisches Maß gebracht. Die Hybris, der damit verbundene Snobismus und die beleidigenden Schmähungen entwickeln sich dann seltener. Am Ende werden bessere Ergebnisse durch die Vorteile der Bescheidenheit ermöglicht, da alle Beteiligten ihren möglichen Beitrag leisten können.