Peter Drucker hat darauf hingewiesen, dass man nur das steuern kann, was man misst. Heute überrollen uns die Zahlen, Daten und Fakten. Jährlich werden über 3,7 Millionen Patente angemeldet – viele im Bereich Digitalisierung und Medizin. Gleichzeitig erreichen uns nicht alle Informationen, entweder weil sie nicht erhoben, publiziert oder sogar zurückgehalten werden. Die unzähligen Betrachtungen liefern unterschiedliche Tatsachen, was dazu führt, dass es uns überlassen bleibt, was wir glauben. Da es stets berechtigte Zweifel an den Daten gibt, nutzt die scheinbare Freiheit der Meinungsäußerung nichts. Verschärfend werden nicht nur eigene Meinungen kundgetan, sondern bewusst andere Standpunkte aktiv verfälscht und diffamiert. Zu viele nutzen die Medien zur gezielten Manipulation der Massen. Wir müssen lernen, mit der verunsichernden Reizüberflutung umzugehen, die eigene Filterblase zu verlassen und uns für andere Standpunkte zu interessieren. Es ist nicht geschickt, die Augen zu verschließen: Was ich nicht weiß, sollte mich heiß machen.
Unsere menschliche Datenverarbeitung ist genetisch auf jagen und sammeln eingestellt. Wir sind darauf programmiert instinktiv Gefahren zu erkennen, wie giftige Pflanzen, gefährliche Tiere und Orte. Auf die heutigen Gefahren, die einfachen Mechanismen der Beeinflussung, sind wir nicht vorbereitet: z.B. gesagt gilt als getan; Wiederholungen scheinen Aussagen zu bestätigen; Emotionen, vor allem Ängste, verankern langfristiger; unvollständige Alternativen beschränken die Wirklichkeit auf sich. Da der Umgang mit der heutigen, virtuellen Welt nicht in die Wiege gelegt ist, müssen wir auf absehbare Zeit lernen, damit umzugehen. In diesem Beitrag geht es um die erste Hürde auf dem Weg, raus aus der Opferrolle: die Bedingungen der visuellen Wahrnehmung.
- Man sieht nur, wenn man hinschaut
Die Augen sitzen auf der Vorderseite unseres Kopfes. Damit fällt der Blick in die Richtung, in die wir uns bewegen oder der wir unseren Kopf zuwenden. Den Großteil der 214° unseres Gesichtsfelds sehen wir unscharf. Der Bereich, indem wir scharf sehen, beträgt nur 1,5°. Alles, was außerhalb des Gesichtsfelds ist, sehen wir nicht. Damit uns trotzdem nichts entgeht, bewegen sich unsere Augen unbemerkt über die Szenerie, i.e. die Wirklichkeit oder über Bilder. Für den unsichtbaren Teil haben wir einen zusätzlichen Kanal, die Ohren, die unsere Aufmerksamkeit wecken, damit wir unseren Blick in die entsprechende Richtung lenken.
Ohne hinzuschauen, sehen wir nichts. - Man sieht nur, wenn man findet
Da die Masse der Daten, die unsere Augen erreichen unscharf sind, ist es unbedingt erforderlich, dass etwas so viel Aufmerksamkeit erregt, dass wir darauf scharf stellen. Interesse wecken Kontraste, Abweichungen, aber auch Gleichförmigkeit (z.B. wenn wir Abweichungen erwarten). Kontraste entstehen, wenn Komplementärfarben, Farbsättigungen und unterschiedliche Helligkeiten nebeneinander auftreten. Das gilt auch für Linien und Formen, die ein bestimmtes Muster durchbrechen. Diese Abweichungen können statisch oder dynamisch im Blickfeld auftauchen. Neben diesen spontanen Auslösern finden wir etwas, weil wir es bewusst suchen, z.B. ein bestimmtes Haus in der Skyline. Wir finden jedoch nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst. Beim Überfliegen eines Textes werden beispielsweise bestimmte Schlüsselworte nicht sofort verarbeitet, sondern wir fühlen erst nach dem Weiterblättern, dass wir etwas Interessantes gesehen haben und blättern zurück, um bewusst danach zu suchen. Diese unbewusst gefundenen Eindrücke bleiben auch über längere Zeit verfügbar, sind aber nur schwer aktivierbar.
Ohne zu finden, sehen wir nichts. - Man sieht nur, was man erkennt
Ein gutes Beispiel für das Erkennen sind abstrakte Bilder, wie das berühmte Bild Viereck von Malewitsch aus dem Jahr 1915, auf dem ein schwarzes Viereck vor einem weißen Hintergrund zu sehen ist. Manche werden die Erklärung kennen und andere sehen einfach ein schwarzes Viereck. Es verbleibt in unserem Gedächtnis nur das, was wir in dem Bild erkennen, daraus ableiten und als Erinnerung mitnehmen. Das gilt für moderne Kunst, für das Geschäftsleben und das Privatleben. Wir merken uns, bewusst oder unbewusst, nur die Sachverhalte, die wir wiedererkennen oder die wir einer bestimmten Kategorie zuordnen können. Der Karnevalsumzug und die Prozession der tausend Krieger in Japan können nur unterschieden werden, wenn wir sie entsprechend einordnen können – alle anderen sehen nichts weiter als eine große Gruppe von Menschen, die in auffälliger Maskerade unterwegs sind.
Ohne zu erkennen, sehen wir nichts. - Man sieht nur, wenn man die Perspektive wechselt
Der visuelle Eindruck steht immer im Wettbewerb mit dem nächsten. Fahren wir mit einem Sightseeingbus durch Paris, dann drehen wir unentwegt unseren Kopf, da sich überall Sehenswürdigkeiten finden. Und beim verlängerten Betrachten des Eiffelturms entgeht uns schnell das Seine-Panorama oder der Trocadero. Erst wenn wir unseren Blick von einer Aussicht lösen, haben wir die Chance, etwas anderes zu sehen. Bei einer Reise verpasst man so schnell viele Besonderheiten. Entsprechend erzeugt der Verbleib in immer der gleichen Echokammer, nur die Bestätigung dessen, was wir bereits wissen. Nur wenn man die Filterblase verlässt, hat man die Chance etwas Neues zu lernen – auch wenn man Gefahr läuft, dass das eigene Weltbild dadurch zerstört wird.
Ohne die Perspektive zu wechseln, sehen wir nichts.
Fazit: Die Probleme der Meinungsbildung beginnen bereits mit der visuellen Wahrnehmung, die unser Weltbild filtert, bevor wir in die Gefilde der gefälschten Nachrichten geraten. Das Sehen ist einerseits nicht auf die Reizüberflutung eingestellt, der wir heute ausgesetzt sind. Andererseits bietet das Gesehene keine umfassenden Eindrücke des Geschehens, da wir immer nur einen Ausschnitt wahrnehmen. Würden wir alles aufnehmen können, was unseren Augen dargeboten ist, würden wir durchdrehen und lebensunfähig. Aus diesem Grund sollten wir ein bewusstes Verhältnis zu unserer Wahrnehmung entwickeln: Wir sehen nur, wenn wir hinschauen und finden und erkennen, bis wir die Perspektive wechseln. Je mehr Leute eine Situation beobachten, desto mehr Beschreibungen erhalten wir – mit übereinstimmenden, zusätzlichen und widersprüchlichen Erkenntnissen. Trotz der Schwierigkeiten der unterschiedlichen Aussagen, sollten stets alle Eindrücke gesammelt und berücksichtigt werden, da man dadurch ein umfassenderes Gesamtbild erhält. Entsprechend sollte in Abwandelung des alten Spruchs gelten: Was ich nicht weiß, macht mich heiß.