Erinnern können sich nur Zeitzeugen. Alle anderen lernen durch Hörensagen aus der Geschichte. Es ist gerade mal siebzig Jahre her, dass Deutschland in Schutt und Asche lag. Menschen waren entwurzelt auf der Flucht und häufig ohne Hab und Gut, so wie heute in Syrien (siehe die folgende Skizze zeigt links Berliner Trümmerfrauen und rechts einen Straßenzug in Syrien). Viele der heute Nachgeborenen entstammen solchen Schicksalen. Und trotzdem scheint es so, als wenn manche ihren gesunden Menschenverstand und ihre Geschichte verloren haben. In Ermangelung von Mitgefühl mit den heutigen Flüchtlingen ist es vielleicht mal erforderlich, sich die Situation eines Flüchtlings zu vergegenwärtigen.
Wir sind uns heute nicht bewusst, dass unser Alltag durch Routinen bestimmt wird, die über Jahrzehnte frei von Krieg den aktuellen Stand erreicht haben. Ohne eine intakte Infrastruktur, die der Gesellschaft funktionierende Verkehrs-, Gesundheits-, Ver- und Entsorgungssysteme, Energie und Telekommunikation bereit stellt sowie ohne eine reibungslose Verwaltung, wären auch wir wieder im dunkelsten Mittelalter. Dies würde bedeuten,
- keine öffentlichen Transportmittel,
- In Ermangelung von Treibstoff würde sich Individualverkehr auf das Fahrrad und Fußmärsche beschränken,
- der medizinischen Versorgung würde der Nachschub fehlen, sobald die Medikamente aufgebraucht sind,
- Ärzte wären nicht mehr erreichbar,
- Fließendes Wasser wäre bestenfalls rationiert und an entsprechenden Wasserstellen verfügbar,
- funktionsuntüchtige Toiletten würden zu Krankheiten und Seuchen führen,
- auf allen Straßen gäbe es stinkenden, krankmachenden Müll,
- stromabhängige Geräte und Services, wie Kühlschränke, Herde, Licht, Fernsehen ständen nicht mehr zur Verfügung,
- die Telefonanlagen würden ihren Geist aufgeben,
- Behörden und Banken in kürzester Zeit nicht mehr funktionieren,
In einer solchen Situation haben wir keinen Zugriff auf unsere in Computern gespeicherten Besitztümer und Belege, die wir in einer durchorganisierten Gesellschaft im Laufe unseres Lebens sammeln – Bankschalter liefern kein Bargeld, es gibt keine bargeldlose Bezahlung, keine staatlichen Leistungen, kein Zugriff auf gespeicherte Daten. Brechen dann noch Feuer aus und zerstören den Bestand an persönlichen Dokumenten, dann bleibt einem nichts als das, was man tragen kann und tatsächlich bei sich hat.
Sicherlich haben alle Populisten, die heute von Flüchtlingen verlangen ihre Papiere bei sich zu tragen, eine feuerfeste Kassette, in der sie alle Pässe, Geburtsurkunden, Zeugnisse, alle anderen Arten von Zertifikaten, Arbeitsnachweise, Rentenbelege und ausreichend Bargeld zurechtgelegt haben, für den Fall der Fälle. Und natürlich würden sie ihre Familie und vor allem diese Schatulle schützen, wenn sie zu Fuß flüchten.
In welchen Sphären befinden sich Politiker, die heute von Flüchtlingen, die aus dem oben beschriebenen Desaster entkommen sind, fordern, dass sie sich ausweisen und ihre beruflichen Qualifikationen belegen können. Ist es Gedankenlosigkeit, fehlendes Mitgefühl oder einfach nur Einfältigkeit?
Fazit: In Ermangelung von Mitgefühl ist es notwendig sich bewusst zu machen, dass eine Flucht keine Pauschalreise ist, die man bei einer Schlepperorganisation bucht, mit einer Garantie, dass man die erhoffte Unterstützung im Zielland erhält. Ein Blick nach Syrien zeigt, dass dort kein Stein mehr auf dem anderen liegt. Gleichzeitig marodieren unterschiedliche Parteien durch die Ruinen. Wer würde da nicht davonlaufen, soweit die Füße tragen? Die Unsicherheit einer Flucht ist allemal besser, als abzuwarten, bis man getötet wird.