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Die natürliche Grenze

Wie unvorstellbar erscheint eine Stadt, die riesengroß ist und sich in eine Unter- und eine Oberstadt aufteilt. Die Grenze trennt die beiden wie die Berliner Mauer den Ost- von dem Westteil. Es findet keinerlei Austausch statt. Seit Jahrhunderten haben die Oberen und die Unteren die Existenz des jeweils anderen vergessen. Oben geht die Sonne nie unter – unten geht sie nie auf. In der Folge haben sich die Menschen an ihre Umgebung angepasst und sprechen mittlerweile eine eigene Sprache, die zwar gleich klingt, aber unterschiedliche Bedeutung transportiert. Eines Tages reißt eine Explosion einen riesigen Krater, der die Ober- mit der Unterstadt verbindet. Beide sperren den Krater weiträumig ab und stellen fest, dass sie direkte Nachbarn haben, die sogar ihre Sprache zu sprechen scheinen. Die Grenze löst sich auf.

Die ersten Treffen verlaufen angenehm, da die Sprachen offenbar sehr ähnlich sind und sogar gleiche Worte nutzen. Dann zeigt sich jedoch, dass die beiden Bereiche sich stark auseinanderentwickelt haben. Die folgenden Beispiele zeigen die Unterschiede.

  • Visuelle Wahrnehmung
    Die Oberstadt hat über die Jahrhunderte alle Bereiche, die nicht von Sonnenlicht erreicht werden, rund um die Uhr mit künstlichem Licht ausgestattet. Dadurch haben sie schließlich die Dunkelheit vergessen. Der Unterstadt geht es ähnlich. Mit der Zeit ist das Licht aus der Unterstadt verschwunden. Schließlich haben sie das Licht vergessen.
    Am Krater treffen sich Oberstädter und Unterstädter. Und beide sagen: „Ich sehe nichts.“ Ein erstaunlicher Konsens, da ja beide aus völlig unterschiedlichen Umgebungen stammen. Es dauert eine Weile, bis jemand versteht, dass beide etwas anderes meinen. Die Oberstädter können nichts sehen, da sie die Dunkelheit nicht durchdringen. Und die Unterstädter sehen nichts, weil sie von dem Licht geblendet sind.
  • Auditive Wahrnehmung
    Die Hörgewohnheiten haben sich in den beiden Nachbarschaften auch unterschiedlich entwickelt. Die dunklen Gänge der Unterstadt verschlucken schon nach wenigen Metern jegliche Schallwellen. Dadurch hat sich das Gehör der Unterstädter auf die tiefen Frequenzen neu eingestellt, deren lange Wellen weit hörbar sind. An der Oberfläche erfreuen sich die Oberstädter an den Klangfarben, die durch die hohen Frequenzen entstehen.
    Nach der Kraterbildung treffen sie sich im Krater und trauen ihren Ohren nicht. Und beide sagen: „Ich höre etwas Ungewöhnliches.“ Die tiefen Töne irritieren die Oberstädter und die hohen Klänge fühlen sich für die Unterstädter befremdlich an.
  • Kinästhetische Wahrnehmung
    Ober- und unterirdisch haben sich Wärmerezeptoren an die jeweiligen Lebensräume angepasst. Der permanente Sonnenschein und das künstliche Licht bräunen die Oberstädter und liefert ein gleichmäßiges Klima. Die Unterstädter sind im Gegensatz dazu ganz blass und die feuchte Frische des Untergrunds gewohnt.
    In dem Krater sind sie jedoch einer neuen Umgebung ausgesetzt, auf dass ihr Wärmeempfinden stark reagiert und beide sagen „Ich fühle mich unwohl.“ Die ungewohnte Kühle löst bei den Oberstädtern und die ungewohnte Hitze bei den Unterstädtern Stress aus.
  • Olfaktorische Wahrnehmung
    Beide Stadtteile haben in der langen Zeit an ihre Atmosphäre gewöhnt. In der Unterstadt herrscht stets eine hohe Luftfeuchtigkeit, die die Gerüche besonders gut transportiert. In Ermangelung von Licht haben sie sich daran gewöhnt ihrer Nase zu folgen, die in der Lage ist ihre Umwelt auseinanderzuhalten und die Mitmenschen an ihrem Duft zu erkennen. In der Oberstadt ist die Luft trocken und transportiert wenige Gerüche. Da sie sich auf ihre Augen verlassen können, achten sie nicht so sehr auf Düfte.
    Im Krater treffen die beiden Atmosphären aufeinander und Ober- und Unterstädter sagen „Es riecht befremdlich.“
  • Gustatorische Wahrnehmung
    Beide Stadtteile haben ihre Ernährung angepasst an ihre Umgebung. Die Oberstädter lieben scharfe Speisen, die roh gegessen werden. Die Unterstädter ziehen Gekochtes vor, dass die Geschmacksnerven weniger reizt, aber mit einer feuchten, breiten Fadheit betört.
    Bei den Treffen im Krater werden stets auch die Köstlichkeiten der Küchen ausgetauscht. Und beide sagen: „Das ist ja ungenießbar.“

Um es kurz zu machen. Der Radikale Konstruktivismus postuliert, dass es keine objektive Realität gibt, sondern jeder aus seinen Sinnesreizen und Erfahrungen sein ganz persönliches Bild der Wirklichkeit konstruiert. In dem obigen Beispiel haben wir ein simples Gedankenspiel durchgeführt, das zeigt, wie unsere Umgebung, unsere Ausdrucksweise bestimmt. Ganz offensichtlich haben sich die Ober- und Unterstädter weit auseinandergelebt. Sie haben sich ideal an ihre jeweilige Umgebung angepasst. Interessanterweise ist jedoch ihre Sprache über die Jahrhunderte unverändert geblieben. Sie haben zwar einige Worte vergessen, die nicht in ihre Lebenswirklichkeit passen, aber zentrale Ausrücke haben überlebt. Sie bedeuten jedoch stets etwas völlig anderes. Unsere Sinne liefern visuelle, auditive, kinästhetische, olfaktorische und gustatorische Reize, die wir dann mit unseren Erfahrungen mischen, um uns schließlich darüber zu äußern – in unserem Beispiel mit den gleichen Worten für unterschiedliche Bedeutungen.

Fazit: Seit Descartes versuchen wir, die Welt objektiv zu ergründen. Heute wissen wir, dass unsere Wahrnehmung nicht in der Lage ist, uns eine gemeinsame Wirklichkeit zu liefern. Die Wissenschaft hat dies schon lange erkannt. Wir versuchen jedoch immer noch, alles zu versachlichen. Das obige Beispiel soll auf einfachste Weise zeigen, wie unterschiedlich die Welt wahrgenommen werden kann, abhängig von der eigenen Sicht und Erfahrung. Nutzen können wir diese Erkenntnisse in unserer täglichen Kommunikation, indem wir uns das Folgende bewusst machen.

Erstens gilt: Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage. (Heinz von Foerster).

Zweitens gilt: Man kann nicht nicht kommunizieren (Paul Watzlawick).

Im Alltag heißt das, dass man sich der natürlichen Grenze immer wieder bewusst ist und sich anstrengt, das Gegenüber zu verstehen.

Flatrate für die Sinnenwelt?

Unsere sinnliche Wahrnehmung findet in jedem einzelnen Kopf statt. Nichtsdestotrotz haben wir alle scheinbar ähnliche Eindrücke. Unternehmen bemühen sich, um diese grundsätzlichen Empfindungen zu ihrem Vorteil zu schützen. Dabei ist der eigentlich schützenswerte Aspekt die Gestaltung, die original von den Unternehmen entwickelt wird – die Schriftart, das Logo, das Produkt, die Verpackung. Die Konsumwelt wird heute jedoch mehr bestimmt durch das Markenmanagement als durch Unterschiede in der Güte der Produkte. Aus diesem Grund errechnet sich der Preis aus den Herstellungskosten plus dem Markenwert. Werden Farben der standardisierten Farbpaletten jetzt auch schützenswerte Eigenschaften? Sind natürliche Geräusche eine Lizenz wert? Kann man unsere Gesten und unsere Haptik schützen? Ist der Geruch eines Parfüms schutzwürdig? Lässt sich der Geschmack eines Apfels mit einer Nutzungslizenz versehen? Im Zuge der Ökonomisierung aller Bereiche des Alltags nähern wir uns vielleicht der nächsten Stufe – einer Flatrate für die Sinnenwelt.

Ursprünglich hat sich der Markenschutz auf die originalen Produkte beschränkt. Langsam streben Unternehmen mit Patenten und dem Schutz von Marken an, sich auch Teile unserer Sinnenwelt zu sichern.

  • Mit offenen Augen
    Das eigentliche Bild, das ein Bildgestalter geschaffen hat, ist schon lange geschützt. Mittlerweile sind aber auch ähnliche Bilder eine Verletzung der Rechte eines Urhebers. Selbst Farben des natürlichen Farbspektrums werden als Eigentum eines Unternehmens behandelt – Beispiele sind Milka-Lila, Aral-Blau oder Telemagenta der Telekom.
  • Mit offenen Ohren
    Die originale Aufnahme eines Lautmalers ist heute schon geschützt. Im Falle von Musik ist sogar das Konzept eines Stückes, die Komposition, bis 70 Jahre nach dem Tod des Komponisten geschützt. Wie lange wird es dauern bis nicht nur die originalen Aufnahmen, sondern auch allgemeine Lautsignale lizenziert werden – der Schrei eines beliebigen Vogels oder das bekannte Rauschen des Meeres? Ein gutes Beispiel ist der Herzschlag am Ende einer Audi-Werbung „Duke Du ke“ oder der Klingelton der Telekom „DaDaDaDiDa“.
  • Mit bewusstem Tasten
    Das ursprüngliche Objekt mit seiner Oberfläche und seinem Material und der damit verbundene Programmcode sind geschützt. Sobald wir jedoch einen ähnlichen Reiz erhalten, beginnen die Rechtsstreitigkeiten. Wenn Apple versucht seine Schiebe-Geste zum Entsperren eines Smartphones zu schützen. Oder Verizon eine Touchscreen-Haptik anderen untersagen wollte. Wird irgendwann das Gefühl von natürlichen Oberflächen, wie Leder, Holz oder das Fell eines Pferdes, patentrechtlich geschützt?
  • Mit kritischer Zunge
    Die echte Rezeptur einer Speise oder eines Getränks ist bereits geschützt. Sobald jedoch jemand in der Lage ist ähnliche Reize auszulösen, stellt sich die Frage, ob dies erlaubt ist. Am Ende werden wir uns die Frage stellen, ob der Geschmack eines Apfels an sich geschützt werden kann.
  • Mit sensibler Nase
    Die Zusammensetzung, die einen bestimmten Geruch erzeugt, ergibt sich aus dem Verhältnis und der Qualität der einzelnen Bestandteile. Derartige Elemente dürfen heute nur nach entsprechender Lizenzierung genutzt werden. Stellen wir uns jedoch vor, jemand ist in der Lage mit einer völlig anderen Zusammensetzung den gleichen Effekt von Chanel No.5 zu erzeugen. Und was ist mit den vielen natürlichen Düften – der Duft von Zitronen, Rosen, Blumen oder Heu? Sind diese schutzwürdig?

Solange keiner seinen Widerspruch einlegt, können die Unternehmen sich langsam diese Bereiche unserer Wahrnehmung zu eigen machen und irgendwann Gebühren für deren Wahrnehmung fordern. Bei Wasser haben wir das Problem bereits. Die Ausbeutung von Wasser an den Oberläufen der Flüsse führt bereits zu Krisen im weiteren Flussverlauf. Dies könnte irgendwann auch dazu führen, dass die Luft, die wir atmen, oder ein Sonnenaufgang von uns bezahlt werden muss.

Fazit: Die Ökonomisierung von immer mehr Bereichen des Alltags schränkt das Allgemeingut ein. Diese Entwicklung wird sich nur zu einem frühen Zeitpunkt stoppen lassen. Vielleicht ist jetzt der Moment sich gegen eine Flatrate für unsere Sinnenwelt zu wehren.